„Heyyyyy Anja, was machst DU hier?“, höre ich mich fast schon hysterisch erfreut meine aller-hoch10-beste Freundin (Eigentlich hasse ich Ausdrücke wie „beste Freundin“, „Lebensmensch“, „Seelenverwandte“ und dergleichen, aber genau genommen ist sie all das für mich.) begrüßen. „Ich dachte, du liegst im Spital!“ Jede Zelle meines Körpers spiegelt meine Überraschung wider. „Du siehst toll aus, viel besser als bei meinem letzten Besuch!“ Und wirklich, ihre Beine, die wie die fleischgewordene Zeichnung eines Kindergartenkindes augesehen hatten (Kleine Kinder zeichnen Beine immer wie dicke Würste, die auf Höhe des Knöchels einfach abknicken und nur der Farbwechsel gibt preis, wo das Bein aufhört und der Schuh bzw. Fuß anfängt), waren kaum noch geschwollen, der Gelbstich in ihren Augen und in der Haut war verschwunden, die rehbraunen Augen leuchteten voller Tatendrang und sogar das Haar wirkte wieder kräftig und energiegeladen. Vielleicht sollte ich sie mal zu Wort kommen lassen, dann würde ich auch erfahren, was sie hierher führte.
„Hallo, ja ich sollte im Krankenhaus liegen, aber heute ist Samstag und wir waren schon so lange nicht mehr aus. Ich wollte heute unbedingt mit dir nach Wiesen (Für die, die jetzt meinen, meine Grammatik ist mir völlig abhanden gekommen, nein, Wiesen ist ein Ort ca. 30min. entfernt von mir. Dort gibt es einen riesigen, uralten Heustadl, der in den 60er Jahren umgebaut wurde zu einer Jazz-Ethno-Diskothek und dort verbrachte ich in meiner Jugend so viele Wochenenden wie möglich) fahren. Wieder mal tanzen bis zum Umfallen.“ Kurz zögere ich. Was mach ich mit den Kindern? Gut, die großen sind eh bei Oma aber was mach ich mit den Babies? Mein Mann steht lächelnd hinter Anja und meint: „Kein Problem, ich fahr mit! Dort kann man Zimmer mieten und wir bleiben über Nacht.“
Gesagt, getan. Wir fuhren nach Wiesen und Anja und ich gingen auf ihr Zimmer um uns fertig zu machen. Man konnte schon die Musik von unten hören und wir waren genauso euphorisch wie früher und plapperten die ganze Zeit und als wir dann bereit waren meinte Anja: „Ich bin fix und fertig!!“ Klar war sie das, die Krankheit und natürlich auch die letzten 20 Jahre altern hatten ihre Spuren hinterlassen. Mittlerweile war es schon fast Mitternacht und wir normalerweise schon längst im Bett. „Dann bleiben wir hier und plaudern weiter!“, war meine Antwort und ich war auch gar nicht enttäuscht.
Wir pflanzten uns also aufs Bett und tratschten stundenlang über vergangene Zeiten, Gegenwärtiges und Pläne für die Zukunft. Irgendwann löffelte Anja sich an mich und wir schliefen ein.
Als ich munter wurde schien die Sonne beim Fenster herein, wir lagen immer noch so da, wie wir eingeschlafen hatten, aber Anja war tot. Einfach so. Es war ein friedlicher Moment.
Als ich kurz darauf wieder erwachte, lagen meine kleinen Babies selig schnaufend rechts von mir und mein Mann leise und gleichmässig schnarchend zu meiner Linken. Ich spürte die Tränen, die unaufhaltsam meine Wangen hinunterliefen und den Druck auf der Brust.
Da fiel mir ein, heute ist der 1. Todestag von Anja.
Ein Jahr ist es nun her und seit heute Morgen trage ich dieses drückende, vibrierende Gefühl vom Nacken abwärts wie einen Rucksack mit mir herum und immer wieder läuft eine Träne mein Gesicht herab.